Die Pionierin
Computerkunst, Feminismus, Philosophie - de Kunstverein öffnet seinen Gästen die wundersamen Welten der Anne-Mie van Kerckhoven



newspaper article by Daniel Alexander Schacht.
published on 17 Mar 2017 in Hannoverschen Allgemeine Zeitung

Fröhlich und harmlos wirkende bunte Sonnenschirme drehen sich vor dem Auge des Betrachters - als einer von vielen Loops, die jetzt auf gut einem Dutzend Monitoren oder Leinwänden im Kunstverein zu sehen sind und teils etwas unbeholfen scheinen, so, als stammten sie aus der Frühzeit der Computerspiele. Tatsächlich sind etliche davon weitaus älter als die allermeisten dieser Spiele, entworfen auf Vorläufern der heute bekannten Personal-Computer. Denn ihre Schöpferin hat schon mit Computern gearbeitet, als die noch Elektronengehirne genannt wurden und ganze Zimmerfluchten füllten.

Kein Wunder, dass Anne-Mie van Kerckhoven heute als Pionierin gilt. Schließlich hat die zierliche Belgierin als eine der Ersten keine Scheu gehabt, die elektronischen Ungetüme kreativer zu nutzen, als es sich die meist männlichen Nerds um sie herum vorzustellen vermochten - für ihre Computerkunst, mit der sie schon vor fast 40 Jahren, noch als Mittzwanzigerin, zu experimentieren begonnen hat. Kein Wunder auch, dass Kunstvereinsdirektorin Kathleen Rahn die Künstlerin, die bereits quer durch Europa und vielerorts in den USA Einzelausstellungen hatte, stolz im Kunstverein präsentiert, wo heute die große Kerckhoven-Retrospektive „What Would I Do in Orbit?“ startet. Immerhin ist dies - nach „Digital Minds“ 2015 und „Digital Archives“ 2016 - schon die dritte Ausstellung, die sich, parallel zur Cebit, der Kunstproduktion unter Bedingungen der Digitalisierung widmet.

Ausflüge in Zeit und Raum

„Das ist ein fulminanter Einstieg ins Programm dieses Jahres“, sagt Veronika Olbrich vom Kulturministerium bei der Ausstellungspräsentation und fügt unter Anspielung auf den Schwerpunkt der dritten Ausgabe von „Made in Germany“ hinzu: „Und es passt bestens zum Thema ,Produktion‘.“

Tatsächlich nutzt Anne-Mie van Kerckhoven ja, länger als die meisten, bei ihrer Kunstproduktion die Digitalisierung. Und obwohl sie darin emanzipatorische Potenziale erblickt, huldigt sie keiner tumben Technikgläubigkeit, sondern nutzt die neuen Möglichkeiten für weit ausschweifende Ausflüge in Zeit und Raum, greift auf geschichtliche Größen wie Descartes oder Leibniz zurück, nimmt sich westliche Philosophen wie Richard Rorty ebenso vor wie die fernöstliche Philosophie des Daoismus - und konstatiert auf vielen Ebenen Formen der Entfremdung: zwischen Kopf und Herz, Ratio und Emotion und nicht zuletzt zwischen Mann und Frau. Deren Bild gerät ihr oft, etwa in dem neun Quadratmeter riesigen, collagierten Ölgemälde „Uterusfrau“ (1988), zur Karikatur. Doch die ist nicht selten einer Projektion von Männern entlehnt, die ihrerseits als entfremdet gezeigt werden. „Die göttliche Dreieinigkeit“ lautet beispielsweise ihr Spott neben einer weiteren Ölcollage von drei Männern, die die Künstlerin in der Londoner Sado-Maso-Szene erlebt hat - und die mit Nasenringen verkettet sind.

Schrille Farben, extreme Formate, vielfältige Themen - das große Spektrum dieser Künstlerin, die die Computermaus ebenso souverän einsetzt wie Pinsel oder Bleistift, Kamera oder Keyboard, dokumentiert diese Ausstellung über vier Jahrzehnte hinweg. Zu sehen sind auch etliche der kleinen Zeichnungen, mit denen Anne-Mie van Kerckhoven nach dem Grafikstudium in Antwerpen gestartet ist, in einem der acht Räume des Kunstvereins. Doch was heißt schon acht Räume? Für diese Kunstschau, die rund 200 Werke der Belgierin zeigt, wurden die Kunstvereinsflächen neu durchgetaktet: Mit Zwischenwänden, mit weiß, schwarz und grau abgesetzten Flächen sowie mit (wahrscheinlich nicht lange) weißen Teppichbodensegmenten bietet der Kunstverein derzeit eine Enfilade von zwölf Räumen, passend zu den zwölf Kapiteln dieser Ausstellung.

Eine Essayistin der Kunst

Deren Titel verheißen mal „Generalisierte Ordnungen“, mal „Magische Kraft“ oder „Mystizismus“. Wem das hermetisch erscheint, der kann zu einer Zeitung greifen, die, dank einer Förderung durch die Mediengruppe Madsack, kostenlos ausliegt und auf 45 Seiten Wege durch die wundersamen Welten der Anne-Mie van Kerckhoven weist.

Mithilfe dieser Lektüre wirken diese Welten zwar weniger hermetisch, doch da und dort bleiben sie ein wenig esoterisch. Etwa die Vorstellung, dass die Menschheit sich auf einem fünfstufigen Weg zurück zu einem heilsameren, zirkulären Weltbild befindet. Oder dass sich Stress auf eine Generalformel wie „(Essen + Politik) x (Jugend + Gift)“ zurückführen lässt.

Bloße Abbildlichkeit interessiert diese Künstlerin ebenso wenig wie pure Abstraktion. Kaum eine Konstellation, die ihr nicht zur Metapher, kaum eine Figur, die ihr nicht zur Allegorie gerät. Anne-Mie van Kerckhoven ist eben eine große Essayistin unter den zeitgenössischen Künstlerinnen. Wer sich darauf einlässt, kann im Kunstverein jetzt eine überaus anregende Vielfalt erleben. Und eine Künstlerin, die Gattungsgrenzen so selbstverständlich wie nur wenige umwirft, eine Gesamtkünstlerin eben.




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