Nothing More Natural
in Kunsthalle Nürnberg, Nürnberg, Germany, from 11 Mar 2009 to 24 May 2009
Kolumnen
„Nothing More Natural“ – 3 Fragen an die belgische Künstlerin Anne-Mie Van Kerckhoven
Bilder: Courtesy Kunstmuseum Luzern
Im Laufe der letzten dreissig Jahre hat die belgische Multimediakünstlerin Anne-Mie Van Kerckhoven, geboren 1951 in Antwerpen, ein ambitioniertes Projekt verfolgt, das mittels erotisch-sinnlichen Zeichnungen, experimentellem Film und Klangwelten Verbindungen zwischen Sexualität, Technologie und Formen der Repräsentation beleuchtet. Ihre Arbeit untersucht das Unbewusste aus explizit weiblicher Sicht, ihr frühes Werk erinnert an Zeichnungen von Eva Hesse, Louise Bourgois oder an Körperbilder von Maria Lassnig. Van Kerckhoven gilt als Schlüsselfigur im Prozess der Auflösung stereotyper und unterdrückter Auffassungen von Macht, Sexualität und Begehren.
Die hierzulande noch weitgehend unbekannte Künstlerin zeigte vom 16. August bis 23.November 2008 eine retrospektive Ausstellung im Kunstmuseum Luzern in Zusammenarbeit mit dem Wiels Center for Contemporary Art, Brüssel, unterstützt u.a. vom Flämischen Kulturministerium. Ein soeben neu erschienener, umfangreicher Katalog ist im Kunstmuseum Luzern erhältlich.
Ingrid Isermann stellte der Künstlerin 3 Fragen im Rahmen der Interview-Reihe "3 Fragen an" der FBZ.
Ingrid Isermann: Ihre Beziehungen zum Surrealismus einerseits und zur Ästhetik von Comics und Popkultur andererseits, prädestinieren Sie zur Vertreterin der Kunstformen der Gegenkultur wie Body Art, Performancekunst und experimentelle Popmusik. Was hat sich im Kontext der Untergrundbewegung der 1960er und 1970er Jahre seither verändert, in der Kunst und in der Realität?
Anne-Mie Van Kerckhoven: The spirit of the 60 and 70’s undergroundmovement neutralised itself by establishing a parallel artcircuit on internet. The force they had in real life transformed itself into something ambiguous, freewheeling, harmless but all the same tantalising. Towards whom the filters, attitudes and focuses mean the real challenges. This prolific container became a thankful playground for lovers of twisted minds and ideas, but remains mostly not more than that. It became in fact a part of the entertainment-industry.This recuperation happened after the underground became the norm and fashion for a short while, in the period where high and low art started to look each other in the eye . Anarchism in itself didn’t change as a sexy destabilising power, but in a world where perversity has become the norm on all levels of society, it is more appropriate now to look for ways to disarm the powers that fix predictability, mediocrity and single-mindlesness.
Die Untergrundbewegung der 60er und 70er Jahre neutralisierte sich selbst durch den neuen parallel dazu laufenden Kunstaustausch im Internet. Der Drive des richtigen Lebens floss in mehrdeutige Interpretationen harmloser, dennoch ambitiöser Ansprüche ein, die wiederum in Filter, Haltungen und Fokusse aller möglichen Richtungen mündeten, die Herausforderungen bedeuteten. Dieser gewinnbringende „Internet-Container“ wurde somit ein dankbarer Spielplatz für Liebhaber der „twisted minds“ ausgefallener Ideen, blieb aber meistens nicht mehr als das. Es wurde in der Tat ein Teil der Unterhaltungsindustrie.
Diese Erneuerung fand statt, nachdem der Untergrund bereits für kurze Zeit Norm und Mode wurde, als Kunst und Unterhaltung begannen, sich wirklich gegenseitig wahrzunehmen. Die Anarchie selbst änderte sich nicht als sexy destabilisierende Kraft, aber in einer Welt, die Perversion als Norm auf allen Ebenen der Gesellschaft zulässt, ist es nun absolut angemessen, Wege zu finden, die diese Macht der fixen Vorhersagen, der Mittelmässigkeit und einseitigen Gedankenlosigkeit brechen.
Ingrid Isermann: Nothing More Natural ist die erste Ausstellung über einen Aspekt Ihres Werkes, der
seit Mitte der 1970er Jahre die Grundlage für Ihr Oeuvre darstellt: tagebuchartige Zeichnungen, um subjektive unbekannte psychologische Räume zu erforschen. Sex und Gender sind in der feministischen Wissenschaftsforschung bekannte Kategorien. Bevorzugen Sie die Zeichnung, - die Beziehung zwischen männlichen und weiblichen Körpern -, als bevorzugtes nonkonfirmistisches Mittel der Provokation und Ironie, um gängige Geschlechtermuster zu hinterfragen?
Anne-Mie Van Kerckhoven: While working and reflecting on the exhibition “Nothing More Natural” I realised that the unconscious has no gender. In my drawings I experience a world where unity between soul and mind are a fact. You can call me a contemporary mystic in this way: I have an erotic relatonship with reality when I am drawing. It is a must and a salvation. No ego is present anymore; my hand, holding the tool on the paper, thinks; concentration and focus make of the rational a living thing.
The unconscious represents the only place where freedom exists. Not being bothered by a body, nor by gender, one is able to cope with that amount of reality that one needs for survival and mental health. There is no duality anymore, no hierachy. Everything can be linked and juxtaposed, unexpected combinations and fresh ideas appear organically. This is what you call provocation and irony, I guess.
Während ich an der Arbeit und Reflektion der Ausstellung „Nothing More Natural“ war,
realisierte ich, dass das Unbewusste kein Geschlecht hat. In meinen Zeichnungen experimentierte ich faktisch in einer Welt der Einheit zwischen Seele und Geist.
Sie können mich in diesem Sinne eine zeitgenössische Mystikerin nennen: Ich habe eine erotische Beziehung zur Realität, wenn ich zeichne. Es ist ein Muss und eine Art Rettung. Es gibt kein Ego mehr, meine Hand, die das Werkzeug auf dem Papier hält, leitet und führt mich, Konzentration und Fokus verwandeln das Rationale in ein lebendiges Geschehen.
Das Unbewusste repräsentiert den einzigen Ort, an dem Freiheit existiert. Weder
durch einen Körper noch durch ein Geschlecht beeinflusst zu sein, befähigt einem, mit der Realität umzugehen, die man für das Überleben und die mentale Gesundheit braucht. Da gibt es keine Dualitäten und keine Hierarchien. Alles kann gelinkt und verbunden werden, unerwartete Kombinationen und frische Einfälle, die so ganz natürlich passieren. Dies ist es wohl, was Sie unter Provokation und Ironie verstehen.
Ingrid Isermann: Ihre 1983 erstmals gezeigte und auch in der kürzlichen Ausstellung im Kunstmuseum Luzern in ihrer installativen Fassung vorgeführte Filmarbeit The 39 Steps vs. The 19 Keys versucht, die „dämonischen“ Mechanismen von Hitchcocks Filmkunst mit satanistischen Ritualen zu erklären. Mit der gnostischen Frage „Woher kommt das Böse?“ - wie sind Sie auf diese bisher nach wie vor ungewöhnliche Assoziation gekommen?
Anne-Mie van Kerckhoven: First of all: „Woher kommt das Böse?“ ist he last of my „4 UItersten( Extremities/ 4 Aüszersten)“. It is the animationfilm that I made in 1984, the big work a year later after project The 39 Steps vs. The 19 Keys.
This movie deals in fact with the fascination for malice and violence in fiction, there where in the „4 uitersten“ I used the gnostic quote as a rhetoric question, as a question towards all the systems in western society that try to organize the friction between good and evil. Systems such as faith/God, architecture, education, the interpretation of history and the massmedia.
The 39 steps was a Hitchcock movie that came out in 1935 and I linked it with a summary, made in 1966, of „the“ 19 satanic rituals, collected by Anton Szandor Lavey. It is known the nazis executed regularly some of the rituals. Lavey, the pope of black mass in California, explains in his book the possibilties of inducing willpower to transform the course of reality. The altars in black magic are naked women. Lavey in his book gives a clear view on how to influence and use other people for your own goals. In black magic the word „I“ is taboo. In order to become one with the reality of your deeds, with the flesh. In film the mechanism of montage works on the subconscious, directs the train of thought of the spectator. The virtual molesting of blond women actresses by Hitchcock is a topic of interest on ist own. Both the rising of the filmindustry and totalitarism were realities of the same era, I found it an interesting, urgent and necessary ground to work on in the beginning of the eighties, where a lot of sublimated influences and hidden powers were taken for granted, especially in the entertainment industry. I digged myself in the stuff, and while amusing myself with the the combinations I was answering questions that I was not even aware of. This quest resulted than in paintings, a film and an installation.
Zuerst einmal: “Woher kommt das Böse?” – es ist die letzte meiner „4 Uitersten (4 Extremities / 4 Aüszersten)“. Es ist der Animationsfilm, den ich 1984 machte, die grosse Arbeit ein Jahr später nach dem Projekt „The 39 Steps vs. The 19 Keys“.
Dieser Film spielt tatsächlich mit der Faszination für das Morbide und Gewalttätige in der Fiktion, dort wo ich in den „4 uitersten“ die gnostische Bedeutung als rhetorische Frage stellte, als eine Frage zwischen den Systemen in westlichen Gesellschaften, die bemüht sind, die Friktionen zwischen Gut und Böse aufrechtzuerhalten:
Systeme wie u.a. Glauben/Gott, Architektur, Erziehung/Bildung, die Interpretation der Historie und die Massenmedien.
Die „39 Stufen“ war ein Hitchcock-Film, der 1935 herauskam und ich verband es
mit den „19 satanischen Ritualen“ aus dem Jahre 1966, gesammelt von Anton Szandor Lavey. Es ist bekannt, dass die Nazis regelmässig einige der Rituale ausführten.
Lavey, der Papst der Schwarzen Messe in Kalifornien, erklärt in seinem Buch diesbezügliche Möglichkeiten, wie man den Willen bricht, um die Wahrnehmung der Realitäten zu verändern. Die Altare der Schwarzen Magie waren nackte Frauen.
Lavey gab in seinem Buch eine klare Deutung, wie man Leute manipuliert und für
eigene Zwecke verwendbar macht. In der Schwarzen Magie ist das Wort „Ich“ tabu,
um mit der Realität der Täter und ihren Absichten eins zu werden.
Im Film arbeiten die Mechanismen der Montage mit dem Unbewussten und lenken den Gedankenfluss auf den Zuschauenden. Die virtuelle Attacke auf die meist blonde Schauspielerin ist bei Hitchcock Gegenstand des ureigenen Interesses.
Sowohl die aufstrebende Filmindustrie wie auch der Totalitarismus waren Realitäten der gleichen Zeitspanne. Ich erachtete es daher als interessant, wichtig und notwendig, diesen Tendenzen in den 80ern nachzugehen, wo wiederum eine Menge untergründiger Einflüsse und versteckter Macht sozusagen selbstverständlich war, besonders in der Unterhaltungsindustrie.
Ich versenkte mich geradezu in diesen Stoff und während ich mich mit den verschiedenen Kombinationen beschäftigte und auch amüsierte, wurden meine Fragen, die mir vorher nicht einmal bewusst waren, beantwortet. Das Ergebnis resultierte in Zeichnungen, einem Film und einer Installation.
Kunstmuseum Luzern of Art Lucerne, Europaplatz 1, CH 6002 Luzern. 041 (041 226 78 11. www.kunstmuseumluzern.ch
Ingrid Isermann, Freitag, 23. Januar 2009
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